Berlin 1879: Paula Oppenheimer, 16, hat noch drei jüngere Geschwister. Die Eltern müssen ganz schön rechnen, um die Familie über die Runden zu bringen. Als Rabbiner einer kleinen Reformgemeinde wird Vater Julius nicht besonders üppig bezahlt. Dennoch hält Mutter Antonie zunächst gar nichts von dem Vorschlag ihrer begüterten aber kinderlosen Schwester Auguste, die kluge und musisch begabte Paula bei sich aufzunehmen und sie als Gesellschafterin auszubilden. Man gibt doch seine Kinder nicht weg!
Doch mit dem, was Auguste Arnheim ihrer Nichte an Bildung, materiellem Komfort und nützlichen Kontakten bis in die höchsten Kreise hinein bieten kann, können Oppenheimers nicht mithalten, und so stimmen sie dem Arrangement schließlich zu. Im Wege stehen möchten sie ihrer Tochter nicht. Also zieht Paula schweren Herzens zur Tante. Auch wenn das neue Zuhause nur einen Katzensprung vom Elternhaus entfernt ist, fehlen ihr Mutter, Vater und Geschwister, vor allem ihr um drei Jahre jüngerer „Seelenbruder“ Franz.
Ein paar Jahre später: Paulas Bruder Franz studiert jetzt Medizin und bringt eines Tages seinen besten Freund aus der Studentenverbindung mit nach Hause: den ungestümen und rebellischen Richard Dehmel, der ein wenig ziellos Naturwissenschaften, Nationalökonomie und Philosophie studiert und sich als Poet versteht.
Weil Richard Ärger mit seinen Eltern hat, wird er von den großzügigen Oppenheimers durchgefüttert und fast wie ein Familienmitglied behandelt. Als Franzens Kumpel ist er der Familie lieb und wert. Doch dann beginnt er, sich für Paula zu interessieren. Auch sie ist angetan von dem wilden Kerl, der viel auf ihre Meinung gibt und sie regelmäßig seine Texte beurteilen lässt. Wahrscheinlich hat sie sich noch nie so verstanden und ernst genommen gefühlt.
Als die beiden jedoch vom Heiraten sprechen, schrillen bei ihrer Familie sämtliche Alarmglocken. Richard ist ja ganz unterhaltsam aber mittellos und egoistisch und hat eine Menge Flausen im Kopf. Wovon wollen Paula und er leben? Sie sehen es kommen: Er wird dichten, sich von aller Welt bewundern lassen und sich nicht darum scheren, ob Frau und Kinder daheim was zu beißen haben. So einen Kerl muss man sich leisten können, und Paula hat nun mal kein Geld. Erschwerend kommt hinzu, dass sie gesundheitlich angeschlagen ist und immer mal wieder zur Kur an die See oder in die Berge muss. Ein Leben mit permanenten Existenzsorgen wäre Gift für sie.
Doch wenn Richard Dehmel sich etwas in den Kopf setzt, dann bekommt er es auch. Und Paula will er mit aller Macht .Sie lieben einander stürmisch und leidenschaftlich und doch kommt vieles so, wie Paulas Familie es vorausgesagt hat:
„(...) Warum tut er mir das an? Warum?“, fragt sie einmal verzweifelt. Und ihre Freundin Hedwig antwortet: „Weil er Richard ist.“ (Seite 475). Ich würde sagen: Weil er ein rücksichtsloses, ichbezogenes A***l*ch ist und genau weiß, dass er damit durchkommt. So einfach kann frau ihren Gatten zu der Zeit nicht in den Wind schießen. Wie sollte sie sich und ihre Kinder durchbringen? Aber Paula ist intelligent und nicht unbegrenzt leidenswillig ...
Spätestens bei den unfassbar gemeinen Gedichten, die Richard an Paulas 32. Geburtstags vorträgt, habe ich mich gefragt, warum sie ihn nicht einfach umbringt. ;-) Mit Richard ist es Ulrike Renk wieder einmal gelungen, eine Figur zu schaffen, die ich gleichzeitig verstehen und von Herzen verabscheuen kann. In Romanen ist mir das eine Freude.
Richard Dehmel ist zweifellos ein Mann seiner Zeit – und von einer so grandiosen Egozentrik, dass er nicht mal merkt, was er seinen Mitmenschen antut. Und wenn es ihm bewusst würde, wäre es ihm wahrscheinlich egal. Doch wäre Paula damit gedient gewesen, wenn ihre Eltern diese Ehe verhindert und sie in gesicherte aber langweilige Verhältnisse verheiratet hätten? Wahrscheinlich nicht. In einer emotional flacheren Beziehung wäre sie nie so unglücklich aber auch nie so glücklich gewesen wie mit Richard. So gesehen ist alles gut.
Die Reihe EINE FAMILIE IN BERLIN beruht auf Tatsachen. Die Familien Dehmel und Oppenheimer kann man googeln – es gab sie wirklich. Doch wie die Autorin ausdrücklich betont: „Dies ist keine wissenschaftliche Biographie. Dies ist ein Roman.“ (Seite 494) Was wahr ist und was Ulrike Renk aus dramaturgischen und anderen Gründen erfunden hat, erfahren wir im Nachwort.
Ich liebe die bildhafte Sprache, die gefühlvollen Briefe und vor allem die Stimmung im Kapitänshaus an der Ostsee, wo die Familie über viele Jahre ihre Sommerfrische verbringt und Paula sich immer wieder von den Strapazen ihrer Krankheit erholt. Und ich h a s s e mit großem Vergnügen den Egomanen Richard.